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Granulozyten, neutrophile
Linksverschiebung der Neutrophilen
Physiologische Linksverschiebung
Hiatus leucaemicus
Extreme reaktive Linksverschiebung


Linksverschiebung der Neutrophilen

Autor/en: F.-G. Hagmann
Letzte Änderung dieser Seite: 18.04.2011

Definition

Bei einer Vermehrung von stabkernigen neutrophilen Granulozyten oder dem Auftreten noch früherer Formen im peripheren Blut spricht man von einer Linksverschiebung der Neutrophilen. Zu unterscheiden sind eine "reaktive" (physiologische) und eine "pathologische" Linksverschiebung, als Besonderheit der sog. "Hiatus leucaemicus".

Eine reaktive Linksverschiebung (Abb. 1-4) kann z.B. bei vielen bakteriellen Infektionskrankheiten, malignen Tumoren, Koma diabeticum, Urämie, darüber hinaus bei zahlreichen anderen Krankheiten bzw. Zuständen (z.B. durch Stress oder medikamentös induziert) regelmäßig oder fakultativ zur Beobachtung kommen.
In ihrem Erscheinungsbild geht sie im Allgemeinen nicht über die Metamyelozyten hinaus (im Zytozentrifugenpräparat findet man häufiger auch einzelne Myelozyten). Im Einzelfall (leukämoide Reaktion) ist sie aber in ihrem Ausmaß nicht von einer pathologischen Linksverschiebung zu unterscheiden.

Die pathologische Linksverschiebung zeichnet sich aus durch das Vorkommen früherer Vorstufen bis zum Myeloblasten und häufig auch einer relativen Vermehrung unreifer Zellen gegenüber den Segmentkernigen. Die pathologische Linksverschiebung (siehe Abbildungen zur chronischen myeloischen Leukämie, Bildserie 2) ist in den meisten Fällen Ausdruck einer hämatologisch-onkologischen Erkrankung: myeloproliferative Erkrankungen, akute Leukämie, Knochenmarkinfiltration bei malignen Tumoren und Lymphomen, extramedulläre Hämatopoese u.w. Häufig gibt es keine sichere Dignitäts- und Kausalitätszuordnung bei den Erscheinungsbildern reaktiv oder pathologisch.

Als "Hiatus leucaemicus" (Abb. 5-8) wird eine Erscheinungsform des weißen Blutbildes bezeichnet mit Blasten (und evtl. gering differenzierten Zellen) auf der "linken Seite" sowie Segmentkernigen auf der "rechten Seite" der Ausreifung, während die "Zwischenformen" fehlen. Diese Erklärung muss insofern modifiziert werden, als dass von Zwischenformen nicht die Rede sein kann, wenn es sich auf der "linken Seite" z.B. um Lymphoblasten oder Monoblasten handelt. Andererseits findet man bei akuten Leukämien und Blastenschüben häufig Mischbilder mit einer starken Blastenpopulation auf der einen "Seite" und einer reduzierten Anzahl von Segmentkernigen auf der anderen, dazwischen aber auch "linksverschobene" Granulozyten. Man sollte daher nicht nach einem starren Schema der Linksverschiebung suchen, die Einteilung in "reaktiv", "pathologisch" und des "Hiatus" gibt Muster vor, Überschneidungen sind möglich und nicht selten.

Bei gehäuftem Vorkommen von überalterten, übersegmentierten neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut spricht man von "Rechtsverschiebung" (siehe dort).

Differenzierung zwischen reaktiver und pathologischer Linksverschiebung

Bei akuten, seltener auch bei chronischen Infektionen, außerdem auch nach schwerem Trauma, bei schweren Verbrennungen und anderen Ursachen kann eine ausgeprägte Leukozytose bzw. Granulozytose (Hyperleukozytose) mit über das normale Maß hinausgehender reaktiver (physiologischer) Linksverschiebung auftreten. Dies kann besonders bei Kindern der Fall sein (Abb. 9, 10). Dabei können vereinzelt sogar frühe Promyelozyten oder Myeloblasten im Blut beobachtet werden. Auch rote Vorstufen können in solchen Situationen im Blut auftreten (Abb. 11-13).

Eine Differenzierung von der sogenannten pathologischen Linksverschiebung ist erforderlich. Die Klinik spielt dabei eine entscheidende Rolle. Bei ausgeprägter neutrophiler Granulozytose (Hyperleukozytose) mit extremer Linksverschiebung spricht man nach Ausschluss einer Leukämie auch von einer "leukämoiden", d.h. "leukämieähnlichen" Reaktion.
Die alkalische Leukozytenphosphatase (ALP) kann bei der Abgrenzung zur chronischen myeloischen Leukämie (siehe ALP bei CML) hilfreich sein. Bei reaktiven Prozessen ist die ALP im Allgemeinen erhöht (siehe "ALP bei entzündlicher Granulozytose"). Allerdings ist die ALP auch bei myeloproliferativen Neoplasien (MPN) wie Myelofibrose (MF) und Polycythämia vera (PV) erhöht (siehe ALP bei MPN).
Von Bedeutung können weitere Beobachtungen am Blutbild sein: Toxische Granulation und Vakuolisierung der Neutrophilen, Döhle-Körper, Verminderung der Eosinophilen u.a.
Die Kombination von roten und weißen Vorstufen im Blut wird auch als leukoerythroblastisches Blutbild bezeichnet (auch die Bezeichnung erythromyeloisches Blutbild ist gebräuchlich). Eine derartige Veränderung ist charakteristisch für die Myelofibrose (MF) mit extramedullärer Blutbildung.
Das Fehlen der oben genannten Ursachen einer hochgradigen Linksverschiebung muss insbesondere bei bekannter Tumorerkrankung (z.B. Mammakarzinom, kleinzelliges Bronchialkarzinom) an eine Knochenmarkkarzinose denken lassen. Eröffnung der Blut-Knochenmark-Schranke und Verdrängung führen zur Ausschwemmung der genannten Zellen.
Findet man eine Anämie und eine Thrombozytopenie (was bei Knochenmarkkarzinose oft der Fall ist), muss auch nach einem tumor- oder therapieassoziierten hämolytisch-urämischen Syndrom gesehen werden (achten auf Fragmentozyten, Bestimmung der Hämolyse-Parameter, Kreatinin).
Rasch proliferierende Lymphome mit Knochenmarkinfiltration (z.B. Burkitt-Lymphom, bestimmte Formen der großzelligen Lymphome) können ein solches Blutbild verursachen und klinisch-laborchemisch eine schwere inflammatorische Reaktion unterhalten, was dann die Abgrenzung zu den eingangs genannten Erkrankungen wieder erschwert.

Bei klinisch unklarer Situation sollte das Knochenmark rasch nachgesehen werden, gerade auch beim Patienten unter Intensivbehandlung.

Leukämoide Reaktionen werden auch bei Neugeborenen mit Down-Syndrom beobachtet ("Transitorisches myeloproliferatives Syndrom", TMS: Pathogenese, Abbildung; Therapie; online publiziert bei ONKODIN) und müssen von einer Neugeborenen-Leukämie abgegrenzt werden.

Morphologie der reifen Neutrophilen, Granulozytenumsatz und Sicherheit der Erfassung einer Linksverschiebung

Die jetzt gültige Interpretation der physiologischen Linksverschiebung geht auf die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von Arneth begründete Lehre der Klassifizierung der Neutrophilen nach der Anzahl der Kernsegmente zurück [Arneth J 1944]. Von dieser Klassifizierung sind als wesentliche Gruppen geblieben die Klasse I (Stabkernige, Metamyelozyten, siehe unten), sowie die Hochsegmentierung der Klassen V (5 Segmente, normal 0-5%) und VI (mehr als 5 Segmente, normal 0%), die unter pathologischen Bedingungen (Vitamin B12-Mangel, Folsäuremangel, CML u.a.) oder als hereditäre Anomalie vermehrt sind oder auftreten [Bessis M 1977] [Undritz E 1972]. Bei Säugetieren sind die Granulozyten polymorph, der Segmentierungsgrad kann aber sehr unterschiedlich sein [Hawkey CM 1990].

Im Blutausstrich von Gesunden ist das Verhältnis von neutrophilen Stabkernigen zu neutrophilen Segmentkernigen mit 1:16 etwa konstant (Kernverschiebungsindex nach Schilling).

Der segmentkernige neutrophile Granulozyt (siehe dort) ist das ausgereifte Zellprodukt der neutrophilen granulozytären Entwicklungsreihe.
Definition 1: Ein Segmentkerniger hat eine Kernbrücke zwischen den Segmenten, die definiert ist als Einschnürung, deren Durchmesser nicht mehr als 1/3 der Breite des dicksten Kernsegments beträgt, und die Kernformen zeigen überlappende Segmente, welche geknotete oder T- oder Y-Formen annehmen (Drittelsregel). Diese Definition ist von der DGHO anerkannt.
Für den Stabkernigen bedeutet das: Der Kern muss entweder weitgehend eine Bandform zeigen oder keine höhergradige Einschnürung (max. 2/3 der Breite des dicksten Kernsegments). Die Kerngrenzen sollen weitgehend parallel verlaufen.
Definition 2: Erst bei fadenförmiger Verbindung zwischen den zwei Kernsegmenten kann von einem Segmentkernigen gesprochen werden (Fadenregel). Diese Definition findet sich in den angloamerikanischen Lehrbüchern der Hämatologie, auch in der Schweiz ist sie üblich.

Der stabkernige neutrophile Granulozyt (Abb. 3) ist das dem Segmentkernigen nächste abgegrenzte Vorläuferstadium des Neutrophilen.
Er kommt physiologischerweise immer im Blut vor. Die Prozentzahl beträgt normalerweise bei Anwendung der ersten oben aufgeführten Definition (des Segmentkernigen) <5% der Leukozyten, bei Anwendung der zweiten Definition 0-16% [www.mqnet.ch].
Zum Teil wird in der Literatur auf die Angabe von Stabkernigen komplett verzichtet, oder es wird ein Stabkerniger beschrieben mit Kernmorphologie (Form, Chromatindichte), ohne dass quantitative Angaben zur Brückenbildung und Einschnürung gemacht werden. Der Hinweis ist interessant, dass die Differenzierung vom Stab- zum Segmentkernigen mit vorübergehenden Einschnürungen des Kerns beginnt [Boll I 1958]. In der Literatur finden sich sowohl Angaben, dass der Stabkernige kleiner sei als der Metamyelozyt als auch, dass er ebenso groß sei. Das Kernchromatin ist dichter als beim Metamyelozyten.

"Im Zweifelsfall sollte eine Zelle immer der reiferen Stufe zugezählt werden. Die Unterscheidung von Stab- und Segmentkernigen ist im Gegensatz zur Klassifizierung der übrigen Leukozyten und zur Abgrenzung der Neutrophilen als Gesamtklasse mit einem großen Fehler (größer als 5%) behaftet." [Bucher U 1988].
In einem englischen Standardwerk der Blutzellen ist die folgende Definition eines Stabkernigen ("neutrophil band form") des "Commitee for the Clarification of Nomenclature of Cells and Diseases of the Blood Forming Organs" zu finden: "Jede Zelle der granulozytären Entwicklungsreihe, die einen Kern hat, der beschrieben werden kann als ein gekrümmtes oder gewundenes Band, ganz gleich wie ausgeprägt die Einkerbung, wenn sie den Kern nicht komplett segmentiert in Lappen, die von einem Filament separiert werden." [Bain BJ 1989].
Zu berücksichtigen ist auch ein unterschiedlicher Anteil von Stabkernigen je nach Lebensalter [Dr. E. Fresenius KG 1979] [Kleihauer E 1978].

Für die Eosinophilen und die Basophilen im Blut spielt eine Einteilung nach der Segmentierung keine Rolle [Boll I 1980].

Metamyelozyten (Abb. 4) oder Jugendformen werden beim Gesunden nur selten gefunden. Bei der Betrachtung der Leukozyten im mit der Zentrifuge hergestellten Konzentrat findet man sie vereinzelt. Die Zelle zeigt meistens ein vollständig azidophiles Zytoplasma. Die Granulation ist neutrophil. Bezüglich der Kernstruktur und -größe gibt es beim Vergleich zwischen Myelozyten (siehe dort) und Metamyelozyten verschiedene Aussagen [Rozenberg G 1996] [Löffler H 1999] [Boll I 1980] [Bessis M 1977]. Überwiegend wird das Chromatin als dichter und gröber mit Verklumpungen beschrieben. Durch Kontraktion und Umformung gibt es sicherlich fließende Übergänge in der Chromatindichte in der Entwicklung vom Myelozyten zum Stabkernigen. Stobbe definiert einen Metamyelozyten derart: "Wenn man die äußere Zirkumferenz des Metamyelozytenkerns zu einem Kreis ergänzt, soll die Einbuchtung mehr als 1/3 des Kreisdurchmessers betragen" [Stobbe H 1991].

Ein Myeloblast teilt sich im Knochenmark in zwei Promyelozyten. Diese vermehren sich und werden zu zwei Myelozyten. Myelozyten sind zu zwei weiteren Zellteilungen fähig. Dann reifen sie ohne weitere Teilung zu den Endprodukten aus. Die Gesamtzahl der Zellteilungen vom Myeloblasten bis zum Myelozyten wird mit 4 bis 5 angenommen. Ein Teil der reifen neutrophilen Granulozyten wird im Knochenmark zurückgehalten und nur bei erhöhtem Bedarf in der Peripherie freigesetzt. Im Blut halten sich die Granulozyten 6 bis 12 Stunden auf, danach im Gewebe 2 bis 4 Tage. Für die Halbwertszeit der Granulozyten im Blut gibt es unterschiedliche Daten. Dresch et al. konnten zeigen, dass die Halbwertszeit des Verschwindens von Granulozyten aus dem Blut 18 +/- 2,2 h beträgt. Daraus ergibt sich gegenüber anderen Autoren eine Halbierung der Granulozyten-Turnover-Rate. Das lässt sich wiederum nur mit einer physiologischen Phagozytose von Granulozyten im Knochenmark erklären. Unter den Bedingungen eines gesteigerten Granulozytenumsatzes dürfte es daher erhebliche Fluktuation im Verhältnis von Stab- zu Segmentkernigen geben.

Je nach Definition (s.o.) kann die Anzahl von als Stabkernigen bezeichneten Zellen zwischen 0 und 16% schwanken. Der statistische Fehler von 10% Stabkernigen bei 100 ausgezählten Zellen ist so, dass der wahre Anteil zwischen 4,9% und 17,6% liegen kann.
Auch mit der Definition 1, die die Anzahl der Stabkernigen im normalen Blutbild niedrig hält, kann es noch zu Interpretationsschwierigkeiten kommen, wenn man den Stabkernigen allein als Hinweis überbewertet. Die Unsicherheit der Erkennung der Linksverschiebung durch Vermehrung der Stabkernigen bei Vorhandensein von modernen sicheren Laborparametern zur Erfassung einer inflammatorischen Reaktion hat die Frage aufkommen lassen, "ob der Stabkernige das 21. Jahrhundert überleben wird" [van der Meer W 2006].

Eine Hilfe für die schnelle Erfassung einer Linksverschiebung kann das Zytozentrifugen-Leukozytenkonzentrat des Blutes sein, in dem sich dann häufiger Metamyelozyten (normalerweise nur sehr vereinzelt) und zumeist auch einzelne Myelozyten finden.

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